OneShot: Eine Blume nur für dich

„Suche meine Frau – Rosalinde (78)“.

„Hat wer mein Sohn gesehen? Martin (7J.) Wo bist du?“

„Sascha bitte melde dich!“

Ich stand vor einer Holztafel, auf welcher viele verschiedene Zettel angepinnt oder angeklebt waren. Auf den meisten der Zettel war ein Bild gedruckt, dass die jeweilige Person zeigte nach welcher gesucht wurde. Ich kannte die meisten dieser Anzeigen auswendig. Und wusste bei weitem nicht was ich schlimmer fand: Die Eltern, meist Mütter, die ihre Kinder suchten oder die Älteren, die ihre Ehegatten suchten. Es war nicht das erste Mal, dass ich diese Woche schon vor dieser Tafel stand. Seit dem Ausbruch, vor drei Jahren, stand ich hier vor den unzähligen Vermisstenanzeigen die hier auf gehangen waren.

Am ersten Tag waren es fünf Anzeigen, am zehnten Tag waren‘s weit über 100. Viele Leute, die hier ein Bild angeklebt, oder angepinnt hatten waren nun wahrscheinlich selber verschwunden. Ich selbst hatte auch ein Bild auf gehangen. Mittlerweile war meine Suchanfrage überhangen worden. Die oberen Blätter waren von Wind und Wetter vergilbt, zerrissen oder verblichen. Die meisten Blätter die als erstes aufgehalten worden waren, hatten ihre Textur behalten. Über den ganzen Anzeigen war mit schwarzen Lettern dick und fett „Missing“ geschrieben worden.

Ich hatte mich lange gefragt warum auf Englisch geschrieben hatten, aber bis heute keine Antwort bekommen. Und wahrscheinlich würde ich auch keine Antwort mehr bekommen.

Früher hatten mich die Zettel bewegt, heute war das leider nicht mehr der Fall. Ich nahm es so hin. Schrecklich, wie man abstumpfen konnte mit der Zeit.

Ich sah mich auf dem Rathausmarkt um. Auf meinem Gesicht, Mund und Nase, hatte ich eine Maske. Dieses war Pflicht geworden, für jeden der sein Haus verließ. Am Anfang hielt sich nicht jeder dran. Doch die Ansteckungsrate war enorm in die Höhe geschossen. Binnen kürzester Zeit hat die Regierung Schutzmaßnahmen beschlossen, woran sich natürlich niemand gehalten hat. Man kennt es. Die Verdopplung der Ansteckungsrate war anfänglich zwei Wochen, kurz danach auf eine Woche gesunken. Danach ging alles ganz schnell. Die Gefahr war, die Verdopplung weniger als eine Woche betrug. Und schnell war die Verdopplung der anzusteckenden bei einem Tag. Die Schutzmaßnahmen, die die Regierung betroffen hatte, wurden nicht angenommen. Das führte dazu, dass man das Virus nicht eingrenzen konnte. Und so wurde die Schutzmaßnahme nicht nur eine Empfehlung, sondern ein Gesetz. Schnell kursierten im Internet viele Theorien darüber dass man in die Freiheit nehmen wollte. Allerdings wäre mir es lieber hätte man mir die Freiheit genommen, als dass man meine Mutter genommen hätte.

Ich hob die Blätter, die über meinem gehangen waren und schaute meine Mutter an. Verschwunden war natürlich in dieser Zeit niemand. Die Krankheit welche herum ging war überaus tödlich. Der Krankheitsverlauf sah bei fast jedem gleich aus. Zuerst hatte man eine leichte Erkältung, die Nase lief man hatte Kopfschmerzen und Gliederschmerzen. Zuerst war der Auswurf der Nase normal wie bei einer Erkältung. Kurze Zeit später nach dem man sich mit der Krankheit angesteckt hatte war der Schleim aus der Nase dunkel grün, zwei Wochen später braun. Während dieser zwei Wochen hatte man nicht nur Kopfschmerzen, sondern es taten ein geradezu die Knochen weh. Vier Tage nachdem die Krankheit ausgebrochen war, hatte man Fieber, erst leichtes Fieber, dann fast 40°. Dann folgte der Husten und man hustete den Schleim aus. Am Ende kam Blut dazu. Selten hatte man die Krankheit überlebt.

Es hieß, die Sterberate liege bei 100 %.

Noch bevor die Regierung die Maskenpflicht als Gesetz beschlossen hatte, hatte mein Vater schon darauf beharrt des wir Maske tragen sollten. Wir, das war meine Schwester, mein Bruder, mein Vater und ich. Meine Mutter war eine der ersten, die der Krankheit zum Opfer gefallen waren. Noch bevor wir wussten was das Ganze war, hatte sie sich schon ins Krankenhaus begeben, wo sie leider starb. Es war schmerzhaft. Und ich weiß nicht was genau: Das sie weg war oder das wir uns nicht richtig verabschieden konnten. Wir konnten sie nicht mal richtig verabschieden und beerdigen. Ich glaube das war das schlimmste. Sie lag in einen dieser Massengraben, mit hunderten von Fremden Leuten. Aufgebaut wurde für sie nur ein Kreuz, ein weißes Kreuz wo hunderte andere auch standen.

Nichts destotrotz hatte mein Vater richtig reagiert, mit den Masken. Anfänglich wurden wir von den Leuten aus der Schule ausgelacht. Meine Schwester war drei Jahre älter als ich, sie wollte gerade ihr Abitur machen und gehörte zu den beliebtesten der Schule. Das war ihr Verhängnis. Denn während mein Vater darauf beharrte, dass wir die Masken tragen sollten, war meine Schwester der Ansicht die Maske nicht tragen zu müssen. Das hatte zur Folge, dass sie die Maske nur noch auf dem Weg zur Schule oder von der Schule aufsetzte. Nur damit mein Vater sie nicht ohne Maske erwischt. Mein Vater, Bruder und ich trugen die ganze Zeit Masken. Mich störte es nicht, was man schon über mich sagte oder dachte. Ich wollte gesund bleiben. Und wenn es dazu beitrug, dass ich eine Maske tragen sollte, tat ich dieses.

Auch jetzt, wo eigentlich niemand mehr krank war. Denn unserem kleinen Dorf, wo vorher fast 3000 Leute gewohnt hatten, waren vielleicht 100 übrig. Bei den anderen davon sah’s nicht anders aus. Großstädte hatten es noch schwerer. Die Großstädte waren wie leer gefegt.

Nachdem meine Mutter verstorben war, an der Krankheit, wurden wir von der Regierung getestet. Doch all unser Test war negativ. Da manch einer der Meinung war, keine Maske tragen zu müssen, steckte sich relativ schnell jeder in der Schule an. Erst danach, gab es die Maskenpflicht. Ein Gesetz was vielen Menschen das Leben rettete. Leider war diese für meine Familie zu spät.

Jetzt gab es kaum noch Unterricht in Schulen.

Man hatte Onlineunterricht, online Bewerbungen, online Dates.

In den meisten Fällen verlief das Leben komplett online. Bevor man seine Arbeitsstelle ging musste man einen Schnelltest machen.

Jeden Tag.

Auch mein Vater hatte zu Hause einige dieser Tests gesammelt. In regelmäßigen Abständen wurde mein Bruder und ich getestet. Auch mein Vater testete sich neben seiner Arbeit auch zu Hause.

Er wollte nicht noch jemand aus seiner Familie verlieren.

Ich hatte mich daran gewöhnt, auch dass die Leute draußen eben Masken trugen. Ich fand es nicht schlimm.

Kinder sah man auch kaum noch draußen spielen, die meisten Eltern hatten schlicht und einfach Angst. Angst vor einer Ansteckung oder gar den Tod. Es gab noch immer kein Heilmittel, denn das Virus veränderte sich stetig und bildete selber Antikörper.

Es hatte sich schnell raus kristallisiert das es sich um ein intelligentes Virus aus einem Labor gehandelt hatte. Eine Biowaffe, die die Welt auslöschen sollte und es klappte. 70% der Weltbevölkerung war dahingerafft. Und wie man sich denken konnte machte es auch nicht vor Berühmtheiten halt.

Nur deren Steckbriefe hangen natürlich nicht an einem Brett in ihrem Dorf, sie waren überall im Internet zu lesen.
Scheiß Virus, konnte man da nur denken.

Allerdings hatten wir dafür jetzt Flächendeckendes Internet, dieses gehörte nun zu den Grundrechten. Es war weltweit kostenlos. Das beste Netz.

Dann gab es da noch den Vorteil, dass man viel mehr Freizeit hatte. Nun – ich hätte fast geseufzt – doch mit wem sollten sie teilen? Wenn keiner mehr da ist.

Auch Einbrüche hatten abgenommen.
Es gab diverse „Codes“ die an den Häusern gesprayt wurden, damit man sich als infiziert gab. Meist wussten die Nachbarn darüber Bescheid. Damit die sich nicht sorgten. Auch wurden viele der Hochhäuser abgerissen und kleinere Häuser gebaut.

Wozu hohe Häuser  bauen, wenn es niemanden gibt, der in diesen wohnt.

Ich ließ es mir nicht nehmen durch die Straßen der Stadt zu gehen. Ich liebte es, denn sie waren leer. Ein wenig beängstigend war das schon, denn ich meine wenn man bedachte wo die Leute hin waren, also das die Leute tot waren, dann war es schon ein wenig beängstigend. Aber wenn man dieses einfach mal ein paar Tage, ein paar Momente lang ausblendete, fand ich es schön.

Meistens führte mich mein Weg zu den hunderten von weißen Kreuzen, dahin wo auch das Kreuz meiner Mutter und meiner Schwester stand. Auch wenn man wusste, das dort niemand beerdigt lag.

Mein Vater hatte mit mir und meinen Bruder – damals auch mit meiner Schwester – eine kleine Trauerfeier abgehalten. Einmal mit meiner Schwester, einmal für sie.

Ich hatte Kopfhörer in den Ohren und seufzte. Eigentlich waren diese auch verboten, da man nicht hören konnte wenn jemand hinter ein war. Und trauriger Weise gab es leider genug Leute, immer noch, die einen nach dem Leben trachteten. Das bedeutete, wenn sie krank waren,  kamen sie zu dir um dich anzuhusten oder anzuatmen. Es variierte.

Ich hatte sowas einmal mitbekommen, vor zwei Jahren, seit dem war ein Wall um unser Dorf gezogen worden. Wir hatten nur noch einen Eingang und damit auch nur einen Ausgang. Wir waren nicht gefangen. Wir konnten quasi gehen wann auch immer wir wollten, wenn wir zurück kamen so mussten wir nur gleich einen Test machen. Gut, wenn du dann positiv warst, so warst du ja eh so gut wie tot, also ja.

Ich blieb stehen, als ich vor dem alten Blumenladen stand. Hier hatte meine Mutter geholfen. Mittlerweile hatte er geschlossen, man brauchte keine „solchen“ Läden mehr. Für was?

Es gab hier in unsere Stadt einen anderen Blumenladen. Einer reichte.

So wie ein Friseur, ein Bäcker, ein Laden.

Nun – war ja auch nicht verwunderlich. Wir waren nur noch 100. Vielleicht auch 150 oder 200. Das war nicht mehr so wichtig.

Heute wollte ich hier aber nicht so lange stehen bleiben, dennoch nahm ich mir eine Blume mit.

Die Besitzerin des anderen Blumenladens legte hier immer mal wieder frisch geschnittene Blumen ab. Sie waren oft schnell leer.

Ich hatte irgendwann eine kleine Buchse auf gehangen, man konnte die Blumen bezahlen.

Ich legte also für meine einzelne Blume  fünf Euro in die Buchse. Es war es mir wert.

So ging mein Gang weiter.
Schweigsam.

Auch im Kopf, bis mich meine Schritte auf den Friedhof führten. Man hatte „sein“ Grab ausgesucht. Dort wo man die Blume auf die Erde legen konnte, was ich tat. Vor diesem einen weißen Kreuz von so vielen anderen nicht zu unterscheiden.

„Happy Birthday, Mama.“